Verletzungen im Football - Der Feind in meinem Kopf
Verfasst: Sa Sep 18, 2010 12:53
http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,716943,00.html
18.09.2010
Verletzungen im Football
Der Feind in meinem Kopf
Von Benjamin Schulz
Footballprofis setzen ihre Gesundheit aufs Spiel. Doch selbst wer seine Karriere übersteht, kann nicht aufatmen. Schläge gegen den Kopf können katastrophale Langzeitfolgen haben. Lange ignorierte die NFL das Thema Kopfverletzungen - jetzt muss sie sich ihrer Lebenslüge stellen.
Das Kapitel Kevin Kolb hatte bei den Philadelphia Eagles kaum begonnen, da war es vorerst schon wieder beendet. Kolb hielt nach dem Wechsel von Stamm-Quarterback Donovan McNabb zu den Washington Redskins als neuer Spielmacher der Eagles nicht einmal das erste Saisonspiel Philadelphias gegen die Green Bay Packers am vergangenen Sonntag durch. Im zweiten Viertel des Spiels warf Packers-Linebacker Clay Matthews Kolb zu Boden - der erlitt eine Gehirnerschütterung.
Der Eagles-Spielmacher ist keine Ausnahme. Bei einer Sportart, in der Kreuzbandrisse, ausgekugelte Finger und Schultern üblich sind und nur offene Knochenbrüche Aufmerksamkeit erregen, verwundert dies nicht. Verwunderlich ist dagegen etwas anderes: Dass auf den von der Liga vorgeschriebenen "Injury Reports" der Teams der Kopf als verletzter Körperteil so gut wie nie auftaucht.
Dabei leidet der beim Football besonders. Wie schwer, zeigte sich, als Forscher der Boston University Gehirne sechs toter Footballprofis untersuchten. Sie wiesen braune Flecken auf - Indizien für Ablagerungen, die die angrenzenden Zellen schädigen. Normalerweise zeigt sich solch ein Bild bei 80- bis 90-jährigen Alzheimer- oder Demenzpatienten. Doch die Profis waren mit Mitte vierzig oder jünger gestorben. Bei Chris Henry, der im Dezember 2009 im Alter von 26 Jahren ums Leben kam, sah das Gehirn bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung ähnlich aus.
Was verursacht die Schäden? Forscher sehen nahezu einhellig Gehirnerschütterungen als Ursache an. Und die sind nach Angaben des Center for Disease Control (CDC) im Football weit verbreitet. Laut CDC-Schätzungen passieren in den USA jährlich drei Millionen Gehirnerschütterungen beim Sport, die meisten davon im Football. Tückisch sind Verletzungen am Kopf vor allem, weil sie äußerlich nicht festzustellen sind. Bei Henry etwa wurde nie offiziell eine Gehirnerschütterung diagnostiziert.
Häufige Gehirnerschütterungen haben auf Dauer oft katastrophale Auswirkungen. Sie können das Gehirn irreparabel schädigen. Gefährlich ist aber nicht allein der einzelne heftige Schlag auf den Kopf. Ebenso schlimm sind wie im Fall Henrys tausende schwächerer Erschütterungen, die der Kopf eines Footballprofis im Laufe seiner Karriere abbekommt.
19-fach höheres Alzheimerrisiko bei ehemaligen Footballspielern
Eine Umfrage unter 1063 ehemaligen NFL-Spielern zeigte, dass 60 Prozent von ihnen in ihrer Karriere mindestens eine Gehirnerschütterung erlitten hatten, 26 Prozent drei und mehr. Die Befragten mit Gehirnerschütterungen litten häufiger und heftiger unter Erinnerungs-, Konzentrations- und Sprachstörungen sowie Kopfschmerzen.
Lange ignorierte die National Football League (NFL) das Thema und bestritt jeglichen Zusammenhang zwischen Football und Gehirnschädigungen - es ist die Lebenslüge der Liga. Denn wenn ein Sport regelmäßig zu Gehirnschäden führt, darf man ihn dann noch guten Gewissens unverändert stattfinden lassen?
Für die NFL lautete die Antwort lange Zeit "ja". Studien, die einen positiven Zusammenhang zwischen Football und Depressionen oder Demenz zeigten, nannte ein Mitglied des Gehirnerschütterungs-Komitees der Liga "praktisch wertlos".
Erst im vergangenen Jahr sah sich die Liga gezwungen, ihre Haltung zu ändern. Eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zeigte, dass das Risiko, Alzheimer oder ähnliche Krankheiten zu bekommen, bei (ehemaligen) Footballprofis in der Altersgruppe zwischen 30 und 49 Jahren 19-mal so hoch ist wie für Männer, die keine Footballprofis waren. Für die Gruppe der über 50-Jährigen war das Demenzrisiko für ehemalige Footballspieler fünf Mal höher. Auch deshalb sind die Langzeitfolgen einer Football-Karriere und die Versorgung ehemaliger, irreparabel geschädigter Spieler zentrale Punkte bei der Verhandlung eines neuen Tarifvertrages zwischen Liga und Spielergewerkschaft.
Aufprall wie bei einem Auto-Crash
Wie könnten Lösungen aussehen? Footballprofis, die mit voller Wucht aufeinandertreffen, könnten sich ebenso in ein Auto setzen, das bei 70 Kilometern pro Stunde gegen eine Betonmauer prallt - die Wucht des Aufpralls ähnlich, sagt Dr. Robert Cantu, Forscher beim "National Center for Catastrophic Injury Research" an der University of North Carolina. Er und seine Kollegen fordern, den Kopf besser zu schützen. Das dürfte schwierig werden.
Bessere Helme können helfen, Kopfverletzungen zu vermeiden. Doch viele Spieler wollen ihr gewohntes Modell nicht aufgeben. Zudem sehen viele Spieler den Helm nicht als Kopfschutz, sondern als Rammbock für Attacken auf den Gegner. Auch Regeländerungen, etwa ein Verbot von Stößen mit dem Helm oder die Veränderung der Startposition von Linemen, damit sie nicht zu Beginn jedes Spielzugs ihre Köpfe fast zwangsläufig auf den Gegner stoßen, begrenzen das Problem bestenfalls, lösen es aber nicht.
Zudem stellt sich bei drastischen Regeländerungen für Puristen die Frage, ob Football ohne heftige Kollisionen noch Football ist. Mit dem Sport lässt sich zu viel Geld verdienen, als dass Clubbesitzer und Liga dazu bereit wären, das Produkt zu verwässern.
Entscheidend könnte deshalb ein Mentalitätswechsel sein. Noch immer herrscht in NFL-Teams eine Macho-Kultur. Wer bemerkt, dass mit seinem Kopf etwas nicht stimmt, aber trotzdem spielt, gilt als ganzer Kerl. Wer äußerlich keine Verletzungen aufweist und nicht spielen will, gilt als Weichei. Wer um einen neuen Vertrag bangt, verschweigt oft aus Angst um seine sportliche Zukunft Verletzungen.
Offenheit statt Verschweigen - dadurch können sich die Spieler schützen; sonst erleben sie vielleicht nicht einmal mehr ihr Karrierende. Seit 1931 starben nach Angaben des "National Center for Catastrophic Injury Research" an der University of North Carolina 101 Footballprofis bei oder durch Ausübung ihrer Sportart.
18.09.2010
Verletzungen im Football
Der Feind in meinem Kopf
Von Benjamin Schulz
Footballprofis setzen ihre Gesundheit aufs Spiel. Doch selbst wer seine Karriere übersteht, kann nicht aufatmen. Schläge gegen den Kopf können katastrophale Langzeitfolgen haben. Lange ignorierte die NFL das Thema Kopfverletzungen - jetzt muss sie sich ihrer Lebenslüge stellen.
Das Kapitel Kevin Kolb hatte bei den Philadelphia Eagles kaum begonnen, da war es vorerst schon wieder beendet. Kolb hielt nach dem Wechsel von Stamm-Quarterback Donovan McNabb zu den Washington Redskins als neuer Spielmacher der Eagles nicht einmal das erste Saisonspiel Philadelphias gegen die Green Bay Packers am vergangenen Sonntag durch. Im zweiten Viertel des Spiels warf Packers-Linebacker Clay Matthews Kolb zu Boden - der erlitt eine Gehirnerschütterung.
Der Eagles-Spielmacher ist keine Ausnahme. Bei einer Sportart, in der Kreuzbandrisse, ausgekugelte Finger und Schultern üblich sind und nur offene Knochenbrüche Aufmerksamkeit erregen, verwundert dies nicht. Verwunderlich ist dagegen etwas anderes: Dass auf den von der Liga vorgeschriebenen "Injury Reports" der Teams der Kopf als verletzter Körperteil so gut wie nie auftaucht.
Dabei leidet der beim Football besonders. Wie schwer, zeigte sich, als Forscher der Boston University Gehirne sechs toter Footballprofis untersuchten. Sie wiesen braune Flecken auf - Indizien für Ablagerungen, die die angrenzenden Zellen schädigen. Normalerweise zeigt sich solch ein Bild bei 80- bis 90-jährigen Alzheimer- oder Demenzpatienten. Doch die Profis waren mit Mitte vierzig oder jünger gestorben. Bei Chris Henry, der im Dezember 2009 im Alter von 26 Jahren ums Leben kam, sah das Gehirn bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung ähnlich aus.
Was verursacht die Schäden? Forscher sehen nahezu einhellig Gehirnerschütterungen als Ursache an. Und die sind nach Angaben des Center for Disease Control (CDC) im Football weit verbreitet. Laut CDC-Schätzungen passieren in den USA jährlich drei Millionen Gehirnerschütterungen beim Sport, die meisten davon im Football. Tückisch sind Verletzungen am Kopf vor allem, weil sie äußerlich nicht festzustellen sind. Bei Henry etwa wurde nie offiziell eine Gehirnerschütterung diagnostiziert.
Häufige Gehirnerschütterungen haben auf Dauer oft katastrophale Auswirkungen. Sie können das Gehirn irreparabel schädigen. Gefährlich ist aber nicht allein der einzelne heftige Schlag auf den Kopf. Ebenso schlimm sind wie im Fall Henrys tausende schwächerer Erschütterungen, die der Kopf eines Footballprofis im Laufe seiner Karriere abbekommt.
19-fach höheres Alzheimerrisiko bei ehemaligen Footballspielern
Eine Umfrage unter 1063 ehemaligen NFL-Spielern zeigte, dass 60 Prozent von ihnen in ihrer Karriere mindestens eine Gehirnerschütterung erlitten hatten, 26 Prozent drei und mehr. Die Befragten mit Gehirnerschütterungen litten häufiger und heftiger unter Erinnerungs-, Konzentrations- und Sprachstörungen sowie Kopfschmerzen.
Lange ignorierte die National Football League (NFL) das Thema und bestritt jeglichen Zusammenhang zwischen Football und Gehirnschädigungen - es ist die Lebenslüge der Liga. Denn wenn ein Sport regelmäßig zu Gehirnschäden führt, darf man ihn dann noch guten Gewissens unverändert stattfinden lassen?
Für die NFL lautete die Antwort lange Zeit "ja". Studien, die einen positiven Zusammenhang zwischen Football und Depressionen oder Demenz zeigten, nannte ein Mitglied des Gehirnerschütterungs-Komitees der Liga "praktisch wertlos".
Erst im vergangenen Jahr sah sich die Liga gezwungen, ihre Haltung zu ändern. Eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zeigte, dass das Risiko, Alzheimer oder ähnliche Krankheiten zu bekommen, bei (ehemaligen) Footballprofis in der Altersgruppe zwischen 30 und 49 Jahren 19-mal so hoch ist wie für Männer, die keine Footballprofis waren. Für die Gruppe der über 50-Jährigen war das Demenzrisiko für ehemalige Footballspieler fünf Mal höher. Auch deshalb sind die Langzeitfolgen einer Football-Karriere und die Versorgung ehemaliger, irreparabel geschädigter Spieler zentrale Punkte bei der Verhandlung eines neuen Tarifvertrages zwischen Liga und Spielergewerkschaft.
Aufprall wie bei einem Auto-Crash
Wie könnten Lösungen aussehen? Footballprofis, die mit voller Wucht aufeinandertreffen, könnten sich ebenso in ein Auto setzen, das bei 70 Kilometern pro Stunde gegen eine Betonmauer prallt - die Wucht des Aufpralls ähnlich, sagt Dr. Robert Cantu, Forscher beim "National Center for Catastrophic Injury Research" an der University of North Carolina. Er und seine Kollegen fordern, den Kopf besser zu schützen. Das dürfte schwierig werden.
Bessere Helme können helfen, Kopfverletzungen zu vermeiden. Doch viele Spieler wollen ihr gewohntes Modell nicht aufgeben. Zudem sehen viele Spieler den Helm nicht als Kopfschutz, sondern als Rammbock für Attacken auf den Gegner. Auch Regeländerungen, etwa ein Verbot von Stößen mit dem Helm oder die Veränderung der Startposition von Linemen, damit sie nicht zu Beginn jedes Spielzugs ihre Köpfe fast zwangsläufig auf den Gegner stoßen, begrenzen das Problem bestenfalls, lösen es aber nicht.
Zudem stellt sich bei drastischen Regeländerungen für Puristen die Frage, ob Football ohne heftige Kollisionen noch Football ist. Mit dem Sport lässt sich zu viel Geld verdienen, als dass Clubbesitzer und Liga dazu bereit wären, das Produkt zu verwässern.
Entscheidend könnte deshalb ein Mentalitätswechsel sein. Noch immer herrscht in NFL-Teams eine Macho-Kultur. Wer bemerkt, dass mit seinem Kopf etwas nicht stimmt, aber trotzdem spielt, gilt als ganzer Kerl. Wer äußerlich keine Verletzungen aufweist und nicht spielen will, gilt als Weichei. Wer um einen neuen Vertrag bangt, verschweigt oft aus Angst um seine sportliche Zukunft Verletzungen.
Offenheit statt Verschweigen - dadurch können sich die Spieler schützen; sonst erleben sie vielleicht nicht einmal mehr ihr Karrierende. Seit 1931 starben nach Angaben des "National Center for Catastrophic Injury Research" an der University of North Carolina 101 Footballprofis bei oder durch Ausübung ihrer Sportart.