Kicker eines American Football-Teams gehören für ein paar Sekunden zu den einsamsten Menschen auf dem Planeten. In jenen Sekunden, in denen sie über Sieg oder Niederlage entscheiden. Obwohl auch beim Ablauf eines Kicks viele Mechanismen der zehn Spieler ineinandergreifen müssen, die sich zusammen mit ihrem Kicker auf dem Feld befinden, steht allein der Spieler im Fokus, der im Optimalfall das Lederei zwischen die Torstangen platziert und die Gefolgschaft in einen Freudentaumel versetzt.
Bei keiner anderen Position dieser Sportart ist der Grat zwischen Held und Versager so schmal wie bei einem Kicker in den wenigen Sekunden eines Field Goal-Versuchs. Tobi Kreuzer, die Nummer 41 der Phantoms, kennt dieses Gefühl: "Ehrlich gesagt träumt man davon, eine solche Situation wie am Samstag zu erleben. Niemand erinnert sich an Deine Kicks für Extrapunkte oder Field Goals während des Spiels. Aber wenn Du mit noch drei Sekunden auf der Uhr Deine Mannschaft zum Sieg kicken kannst, gibt es niemanden im Stadion, der seine Augen nicht auf Dir hat!"
Kreuzer hat dieses Gefühl genossen. Weil er getroffen hat. Weniger spektakulär aufgrund der Entfernung, es waren "nur" 25 Yards Distanz, vielmehr noch, weil es die letzte Chance seiner Phantoms auf einen immens wichtigen Sieg gegen einen unangenehmen Gegner war. Mit 27:26 feierten Tobi Kreuzer und seine Kollegen einen Erfolg, an den nicht viele im gut gefüllten Europaviertel nach der Gästeführung 100 Sekunden vor Schluss noch geglaubt haben. "Die Offense hat mich überhaupt erst in die Position gebracht, dieses Ding zu versenken. Nicht ich bin der Held, sondern das Team", verweist der 29-Jährige auf die Leistung seiner Teamkameraden. Nicht ohne Grund. Denn die Angriffsserie über 72 Yards, mit nicht mal zwei Minuten verbleibender Spielzeit, gehörte zum Besten, was die Offense um Spielmacher Brian Chris bisher in der Saison gezeigt hat. Elf Spielzüge benötigte das Kollektiv, um Tobi Kreuzer in Position zu bringen, das Spiel zu entscheiden.
"Da hat es so geklappt, wie wir es uns vorgestellt und wie wir uns auf eine solche Situation vorbereitet haben", freute sich auch Offense Coordinator Patrick Griesheimer über die gelungene Umsetzung dieses "Two Minute Drills", wie man eine solche Sequenz, in der ein Rückstand wenige Sekunden vor Schluss simuliert wird, im Training nennt.
Es war der erfolgreiche Abschluss eines bis dahin zwar spannenden, aber durchaus zähen Spiels mit vielen Unterbrechungen, das sich fast über drei Stunden hinzog. Die Razorbacks lieferten den Phantoms einen Kampf auf Augenhöhe, die Führungen im Spiel wechselten ständig. Doch selbst ein spektakuläres Finish der ersten Halbzeit erfuhr nicht die Würdigung, die dem 62 Yard Pass von Brian Chris auf Youngster Timo Jensen bei auslaufender Uhr zur 17:12 Halbzeitführung der Phantoms zustehen würde. "Es wird derzeit einfach zu viel diskutiert, zu viel gemeckert. Auf und neben dem Feld. das muss endlich aufhören", befand Griesheimer.
Der Jensen-Touchdown bedeutete die erste Führung der Phantoms. Das erfolgreiche Comeback nach einem 3:12 Rückstand Mitte des zweiten Spielviertels. Lediglich Kreuzers erfolgreicher Kick für drei Punkte aus immerhin 45 Yards Distanz war bis zur Aufholjagd zu notieren. Andrecus Lindley besorgte bis dahin die beiden Touchdowns für seine Razorbacks, deren beide Extrapunkt-Versuche geblockt wurden. In der Endabrechnung fatal für die Gäste.
Thomas Hogue, der es auf 138 Yards Raumgewinn durch seine Läufe im Spiel brachte, erzielte dann zunächst seinen dritten Saison-Touchdown, bevor der "Hail Mary Pass" von Brian Chris auf Timo Jensen den Schlusspunkt der ersten Halbzeit markierte. Geradezu dramatisch wurde es dann nach punkteloser Verteidigungsschlacht im dritten Spielviertel nach dem letzten Seitenwechsel.
Zunächst legten wieder die Gäste vor. Mario Hines erzielte das 18:17, erneut scheiterten die Razorbacks aber am Extrapunkt. Dann stellte sich Tyshawn White den Phantoms-Fans vor. Der Ballträger der Wiesbadener US Highschool bestritt nach vierwöchigem Familienurlaub in den USA sein erstes Pflichtspiel und durfte sich über seinen ersten Touchdown freuen. Tobi Kreuzer verwandelte auch diesen Extrapunkt sicher, die Phantoms führten 24:18.
Nun war es wieder an den Gästen, den auch für sie wichtigen Sieg unter Dach und Fach zu bringen. Quarterback Joris Strobel selbst vollendete die vermeintlich letzte Angriffsserie seiner Mannschaft und glich aus kurzer Distanz zum 24:24 aus. Als Andrecus Lindley ausgerechnet in dieser Situation die ersten beiden Zusatzpunkte per Conversion zum 26:24 der Razorbacks verwerten konnte, begann das große Zittern im Europaviertel.
Doch Brian Chris und seine Mannen bereiteten über 72 Yards jene Sekunden vor, an die sich nicht nur Tobi Kreuzer noch lange erinnern wird. "Es war einfach ein geiles Gefühl", brachte er es auf den Punkt. Ein Gefühl, das der Mannschaft nach der dreiwöchigen EM-Pause für das Spiel gegen die noch ungeschlagenen Kirchdorf Wildcats (14:13 in Nürnberg) am 14. Juni Selbstvertrauen und Mut schenken sollte. Mit dem Wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können, wenn es eng wird.